Konzept
Kumulierte Zeit: Mit einem Composing aus 3D-Laserpunktwolke, Digitalphotographie sowie einer historischen Aufnahme aus dem Jahr 1950 wird die größte Industrie-Ruine Thüringens porträtiert.
Das AWE [ehemals VEB Automobilwerk Eisenach] war ein Werk mit langer Tradition zur Automobilproduktion in Thüringen. Auf dem ehemaligen Betriebsgelände befinden sich nur noch wenige Originalgebäude, darunter das sogenannte »O1«, das größte Industriedenkmal Thüringens. Ist es ein Denkmal? Als Ruine ist es ein deutliches, radikales Zeichen neben ansonsten intakten Straßenzügen und Neubaugebieten. Jedenfalls zeigt die Fassade noch etwas: den Willen, (wenigstens) die Fassaden zu erhalten, um später vielleicht
wieder etwas Neues dahinter entstehen lassen zu können. Die Fassade schwebt in der Gegenwart, ihrer ursprünglichen Identität beraubt, und verharrt gleichzeitig zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Deutungshoheit bleibt offen: Ist die Fassade Hoffnungsträger, vielschichtiges Spekulationsobjekt oder Symbol des Wandels?
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnen sich massive Strukturveränderungen in den industrialisierten Gesellschaften ab. Nicht immer erhalten sie so viel Aufmerksamkeit wie bei der Automobilindustrie, die über ein Jahrhundert hinweg Zeichen des Wohlstands, Fortschritts, wirtschaftlichen Aufschwungs und als Konjunkturmotor betrachtet wurde.
Fünf Aspekte zur Arbeit:
»Automobil«
Das Gebäude »O1« wird zum Sinnbild einer bewegten Gesellschaft, die vor den Ruinen ihrer eigenen Entscheidungen mitten im Wandel zum einstweiligen Stillstand gekommen ist. Was glänzt heute?
»Zeit«
Gesucht wird eine Verknüpfung von Gleichem mit Gleichem. Es ist ein Abgleich von Mustern, die bekannt sind oder neu erfahren werden.
»historischer Kontext«
Was würde es bedeuten, wenn das Gebäude »O1« abgerissen würde?
Zeit, Erinnerung und Vergänglichkeit dieses menschengemachten und lange Zeit vergessenen Gebäudes werden in einem künstlerischen Rahmen betrachtet. Ergänzt durch Porträts von Menschen, die hier arbeiteten oder über die Zukunft entscheiden. Die Porträtierten stehen in imaginären 3×3 Meter großen Quadraten und zeigen sich mit der zum Standort zugehörigen Drei-Wort-Adresse, die als weltweite Karte über den Globus gespannt wurde (https://what3words.com). Unabhängig davon, was mit dem Gebäude »O1«
geschehen wird – das globale Koordinatennetz der Drei-Wort-Adressen wird weiter Bestand haben. Es ist geplant, diese Porträts nach Jahren an denselben Standorten zu wiederholen soweit die neue Gebäudenutzung dies ermöglicht.
»Archiv-Bildmaterial«
Das Bildmaterial aus dem Museumsarchiv verwendend, sind möglichst identische oder annähernde Perspektiven photographiert. Das beabsichtigte Ergebnis: Ein eingefrorenes Zeitfenster zu zeigen, einander gegenüberzustellen, miteinander verschmolzen oder übereinander geschoben.
»Architektur«
Was ist die Faszination, die diese vom Menschen verlassenen Stätten ausüben?
Weshalb beschäftigen wir uns medial derart damit? Wie kaputt muss etwas sein, damit es als Ruine gilt oder ist es stets erst die Abwesenheit des Menschen, die Ruinen kennzeichnen? Welchen visuellen Impuls muss die Ruine haben, damit wir nicht achtlos an ihr vorübergehen? Beim Betrachten der Ruine ist man häufig bestrebt, dies ungeschehen zu machen.
Es soll kein gleichgültiges nachträgliches Ästhetisieren vernachlässigter
Architektur sein.
Arbeitsweise
Bei der Arbeit mit und in dem verlassenen Gebäude kommt nicht nur Photographie zum Einsatz. Das Potential eines 3D-Laserscanners wurde genutzt, um ungewohnte Blicke mit einer Kamerafahrt auszuloten. Wände und Dächer werden dabei durchschritten – es entsteht eine eigene Poesie der Leichtigkeit dieses riesigen Stahlkonstrukts. Komplettiert wurde dies durch einen Tanzfilm, der im Frühjahr 2022 gedreht
wurde.
… hat das Gebäude quasi inhaliert, gescannt und vermessen, von oben bis unten, von hinten und vorne.
Jensen Zlotowicz in der Thüringer Allgemeine vom 28. März 2020